Über mich

Ich schaue über den Rhein nach Deutschland, es ist Morgen, und ich bin dankbar, dass ich hier wohnen darf. Ich bin die Tochter eines Innerschweizers und einer Tessinerin, im Bündnerland aufgewachsen, in Zizers. Hier in Koblenz wohne ich wieder am selben Fluss. Da schliesst sich ein Kreis.

Als Kind hatte ich zuweilen kurlige Gedanken. Ich sah Dinge hinter den Dingen, Zahlensymboliken, lebte in zwei Welten. Verriet ich etwas davon, wurde es als Spinnerei abgetan. Später habe ich damit auch Aengste ausgelöst, vor allem bei sehr rational funktionierenden Menschen in meinem Umfeld. Heute kann ich mit meinen Fähigkeiten umgehen, damit haushalten. Zum Beispiel besuche ich ein Konzert in Baden und sehe dem Musiker an, dass er grosse Magenprobleme hat. Ruhe, sag ich dann meiner inneren Stimme, jetzt ist Freizeit, bitte keine Eingebungen mehr.

Ich bin froh, den Tag alleine beginnen zu dürfen. Ich brauche Ruhe, um mich für meine Arbeit bereit und offen zu machen. Mein Frühstück ist einfach, Kaffee und Brot. Dazu gehört die Tagesaffirmation, das ist ein Satz, den ich mir für den Tag auswähle. Er kann heissen: Schau mal deinen Schatten an. Oder: Ich habe heute alles, was ich brauche.

Zwischen 8 und 9 Uhr kommen meine ersten Klienten. Es sind keine Patienten, denn ich bin keine Aerztin. mit dieser Arbeitsteilung kann ich gut leben – es gibt Situationen, da sind einfach Mediziner zuständig. Allerdings hat mich noch kaum eine Diagnose überrascht.

Ich wollt immer mit Menschen arbeiten, machte eine Ausbildung als Heimerzieherin und arbeitete mit psychisch Behinderten, bis ich selber Mutter wurde. Weil ich begann, mich für den Körper zu interessieren, wo sich ja die meisten Lebensprobleme zeigen. Ich bildete mich zur Masseurin aus und traf da auf einen sehr guten Lehrer. Er liess es zu, dass ich seine Technik nur als Gerüst benutzte, um meine eigene Sensibilität laufen zu lassen.

Ich hatte das schon in früheren Kursen erfahren: Mit dem Erlernten komme ich so und so weit, dann mach ich etwas intuitiv auf meine Art – und plötzlich bin ich in einer Person drin. Ich habe dann den Eindruck, dass unter meinen Händen ein Rücken zu reden beginnt. Lange Zeit wagte ich nicht, daran zu glauben. mein Massagelehrer jedoch bestärkte mich darin.

Klar hat mein Beruf mit Zuneigung und einer Art Liebe zu tun. Liebe muss aber auch loslassen können – sonst droht das Helfersyndrom oder die gegenseitige Abhängigkeit. Ich nutze häufig Bilder aus der Natur. Es gibt eine Phase, da schupft die Vogelmutter ihre Jungen ziemlich eindeutig oder brutal aus dem Nest. Sie sollen selbst fliegen lernen. Ich kann Situationen verdeutlichen, auf das scheinbar ausweglose Karussel von Wiederholungen hinweisen, vielleicht auch Schritte aufzeigen. Aber die muss der Mensch selber machen. Es gibt manche, die sind schon so lange in einer Depression, die wollen sie einfach nicht hergeben. Dann kann ich nur sagen; Du entscheidest, wie viel Glück du willst. Ich kann niemanden zum Fliegen zwingen. Sonst flieg ich für ihn.

Mittlerweile mache ich zu drei Vierteln Lebensberatung. Aber im Gegensatz zu Psychologen lasse ich mir die Lebensgeschichten vom Körper erzählen. Es braucht Zeit, etwa die Botschaft einer Leber zu verstehen und in sein Leben einzubauen. Zuerst kommen Fragen, sie lösen Gedankenfolgen aus, dann folgen Beziehungsfragen, das ganze Geflecht der menschlichen Existenz kann ins Wanken kommen, bevor sich etwas verändern darf. Wenn ich eine Bohne setze im Garten: Darf ich dann erwarten, anderntags ernten zu können? Warum meinen wir denn, Heilungen an Geist und Körper sollten innert weniger Tage oder Wochen eintreten?

Mein Mittagessen besteht bloss aus einer Suppe, mit vollem Magen kann ich nicht arbeiten. Umso mehr freue ich mich auf das Nachtessen mit meinem Mann. Und nein, die Probleme meiner Klienten nehme ich nicht mit in den Schlaf. Aber mein Beruf hat mit dem Leben und damit auch mit meiner eigenen Lebendigkeit zu tun. Es gibt schon Abende, wo ich denke, wie konnte dieser Mensch seine schlimme Situation so lange aushalten. Meistens entsinne ich mich abends an den Satz des Tages. Ja, ich hatte heute alles, was ich brauchte.

Auszug aus dem Tagesanzeiger 2002